Hunderste gedicht ohne trenen
noch immer bin ich nicht richtig von hier
von hier richtig sehe ich
das ich von irgends komme
kein Buch nimmt sich meiner an
kein Brandanschlag verbrennt
uns alle
wir sind eine art schlimme
befruchtung
tauchen unter
lernen schwimmen
ringen mit gegnern in spigeln
schlagen wurzeln über die erde
was wechst ist kraut
über feuerwunden
noch immer wird mir täglich zwei mall
mein ursprung aufgetischt
aber sie sprechen schon
gut deutsch
konnte ich nicht deutch
hette ich nihts verstanden
das ich so anderes bin.
Dragica Rajčić
schreibt in Deutsch
Aus: Dragica Rajčić, «Post Bellum», Edition 8, Zürich 2000.
в море
aдиночество синë
a за горою
онo дышит зеленo
кaнечно ʙce ϶то
не прaвдa
но лишь тaк cмогу я
крacочно aдиночество
перехитрить
im meer ist
einsamkeit blau
und hinter dem berg
atmet sie grün
das ist natürlich eine
lüge
aber so kann ich
einsamkeit farbig
überlisten
Dragica Rajčić
schreibt in Russisch und Deutsch
Aus: Dragica Rajčić, «Integracion»,(M. Bjelorusets/Ol. Hryhorenko), K, Prostory/Smal’ta 2014.
вовсе не Знание
питало
наши атветы
скорее
пустотные часы
опадшая листва
это скорее были
детские крики
все заброшенные вещи
которые нас
наставляли
о жизни
nicht das wissen hat unsere
Antworten genehrt
es waren
vielmehr
die leere stunden
das abfallende laub
es war kinderschrei
es waren vielmehr
die verlassene gegenstende
welche uns
belehrten
über das leben
Dragica Rajčić
schreibt in Russisch und Deutsch
Aus: Dragica Rajčić, «Integracion»,(M. Bjelorusets/Ol. Hryhorenko), K, Prostory/Smal’ta 2014.
Recept za ukusnu pjesmu
bioloski bezprijekornu
Uzmite najsrije pola kilograma suncanih zraka
tucite ih s obje strane dok
ne zakisi
ljubavna patnja
Podgrijte stanje duha
uljem strave
„nitko me ne razumije“
dvadeset minuta pjesnickog prenemaganja
sad smanjite vatru na
boli me neka stvar
engleski cool
ako jos imate jedan crni sesir
stavit ga na glavu
neka svatko shvati da ste staromodni
Jedite pomalo,
zvacite dugo
u danasnje doba
nitko
ne narucuje poeziju
kao glavno jelo
rezept für bekommliches gedicht
biologisch unbedenklich
nehmen sie zuerst halbes kilo sonnenstrahl
schlagen sie von beiden seiten bis
es nicht regnet
von liebes kummer
erhitzen sie gemüt mit
horor öil
niemand versteht mich
also zwanzig Minuten dichterisches gejammer
dempfen sie jetzt Feuer auf
nonschalant
englisch coool
wenn sie noch einen schwartzen hut haben
setzen sie dem auf
das jeder weiss das Sie von gestern sind
essen sie langsam
kauen sie gut
niemand
heut zu tag
nimmt lyrik als
hauptspeise.
Dragica Rajčić
schreibt in Kroatisch und Deutsch
Aus: Dragica Rajčić, «Post Bellum» Edition 8, Zürich 2000.
Die marokkanische Schale
Du hältst sie in der Hand,
sie füllt deinen Handinnenraum.
Glasierte Tonschale, weisslich
mit türkisen Zeichen, die
unbeschwert um das Rund
kreisen. Irgendwie flatternd.
Im Frühlicht halten sie still.
Wenn der Tag steigt, rufen
sie: Milch. Du wunderst dich
über das Gehabe. Und gibst
nicht klein bei. Wasser klingt
besser. Tee am besten. Der
grüne mit Minze. Die Schale
schaut dich an. Im Tee siehst
du dich selbst. Verzerrt. Dann
beginnen die Zeichen wie
Grillen zu reden. Durch den
Dampf erkennst du das
Zucken der Wortbüschel.
Die Handarbeit in Aktion.
Jedesmal diese Verwandlung.
Jedesmal bist du bereit.
Ilma Rakusa
schreibt in Deutsch
Aus: Ilma Rakusa, «Langsames Licht», Literaturverlag Droschl, Graz 2016.
Gedicht gegen die Angst
Streichle das Blatt
küsse den Hund
tröste das Holz
hüte den Mund
zähme den Kamm
reime die Lust
schmücke den Schlaf
plätte den Frust
neige das Glas
wiege das Buch
liebe die Luft
rette das Tuch
schaue das Meer
rieche das Gras
kränke kein Kind
iss keinen Frass
lerne im Traum
schreibe was ist
nähre den Tag
forme die Frist
lenke die Hand
eile und steh
zögere nicht
weile wie Schnee
öffne die Tür
lade wen ein
schenke dich hin
mache dich fein
prüfe dein Herz
geh übers Feld
ruhe dich aus
rühr an die Welt
Ilma Rakusa
schreibt in Deutsch
Aus: Ilma Rakusa, «Impressum: Langsames Licht», Droschl Verlag, Graz 2016.